Reisen durch das Leben

Das Leben - eine Reise, eine Pilgerfahrt, für unzählige Generationen eine Metapher für das damalige Lebensgefühl. Die Möglichkeiten zur Steigerung der Lebensqualität waren äußerst beschränkt, der Rahmen eng gesteckt. Der Masse der Bevölkerung stand ein Leben vor Augen, das von Arbeit, Mühsal, Erfahrungen von Gewalt und der Aussicht auf ein jähes Ende geprägt war. Niemand wird im Ernst den Fortschritt bestreiten können, der seitdem die Lebensqualität erhöht hat.

 

Das Leben also eine Reise, eine Pilgerfahrt mit der Aussicht auf ein Leben in einer Welt, die durch das Glück geprägt ist, das im Diesseits verwehrt wurde (auch wenn die Angst vor der möglich oder gar wahrscheinlichen Bestrafung im Jenseits dazwischen stand).

 

Kommen wir zurück in die Gegenwart, in der wir leben. Das Reisen ist vielen von uns wichtig, ist es aber auch eine Metapher für das Leben? Und was passiert eigentlich, wenn

wir reisen? In den schönsten Wochen des Jahres, im Urlaub?

 

Ein Wort kommt mir nach drei Wochen unserer längeren Reise in den Sinn, das mit dem Reisen verwandt ist, das Fahren. Wir machen uns auf den Weg und fahren los. Das Transportmittel kann Entfernungen schnell oder langsam überbrücken. Wir fliegen, fahren mit dem Auto, der Bahn, mit dem Fahrrad oder gehen zu Fuß. Vom Fahren lassen sich zwei Worte ableiten, die beide mit dem Reisen zu tun haben: abfahren und erfahren. Wir können reisen, indem wir eine Route abfahren oder indem wir den bekannten Horizont verlassen, in der Hoffnung, etwas neues oder uns selbst neu zu erfahren. Beides lässt sich nur schwer überein bringen. Wer eine Liste von Orten abfährt, die im Reiseführer stehen oder auf Instagram von anderen beworben werden, wird kaum eine innere Erfahrung machen können, die das Potenzial hat, zu verändern. Abfahren hat viel mit Angst zu tun, der Angst, etwas zu versäumen (Fear Of Missing Out). Die greift, wie wir wir wissen, mit den sozialen Netzwerken immer mehr um sich. Wer bestimmte Orte auf dem Weg nicht ansteuert, kann schon einmal zu hören bekommen: Was, Du warst in X und hast Y nicht gesehen?

 

Der britische Sozialanthropologe Tim Ingold unterscheidet zwischen zwei Möglichkeiten, durch die Welt zu gehen. Transport nennt er eine Weise, nach einem vorgegebenen Plan oder in einem Netzwerk zielstrebig von A nach B zu kommen. Wayfaring (wandern) steht dafür, den Weg im wachsamen Austausch mit der Umgebung entstehen zu lassen. Transport steht in unserem Zusammenhang für das Abfahren von vorgesetzten Zielen mit der Absicht, mögliche Hindernisse zu vermeiden, wayfaring für das Zulassen von Erfahrungen, gerade wenn nicht alles glatt läuft und Sehenswürdigkeiten links liegen bleiben (müssen).

 

Ich habe schön reden. Ich bin seit kurzem zeitlich ungebunden und kann in Ruhe auswählen, was sich lohnt, zu besichtigen. Womöglich ist aber die schönste Erfahrung bislang: die latente Angst etwas zu versäumen besser erkennen zu können und im Modus des wayfaring eine neue Qualität des Reisens entdecken zu dürfen. Ist es wirklich wichtig, so viel als möglich in die mir zur Verfügung stehende Zeit zu packen? Was erfüllt eine Reise? Von da her ist es ein kurzer Weg zu der Frage, ob die alte Metapher vom Leben als Reise nicht auch heute noch Bedeutung haben kann.

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